Henri Alexandre de Catt (1725 – 1795)
Ein Vorleser wird gefunden
Mein Name ist Henri Alexandre de Catt. Ich wurde 1725 als Sohn eines Süßwarenhändlers in Morges am Genfer See geboren. Wie ich den König kennenlernte, soll hier erzählt werden. Ich möchte aber gleich vorausschicken, dass, wenn mich der König in einem Gedicht seinen „Verlobten“ nannte, so war das rein geistiger Natur gemeint. Ich war bis 1780 sein Vorleser und besaß das Privileg, fast jeden Tag mit dem König zusammenzutreffen und dabei seine geheimsten Gedanken zu erfahren. Dass ich mir dabei Notizen machte, geschah im Einverständnis des Königs. Auch wenn sich unser Verhältnis in den letzten Lebensjahren des Königs abkühlte, blieb doch der gegenseitige Respekt in jeder Beziehung erhalten.
Im Juni 1755 hatte ich einen Besuch auf einem Landgut zwischen Amsterdam und Utrecht gemacht. Ich bestieg auf der Rückreise die Barke, die zwischen beiden Städten verkehrte. Die Kajüte war für einen Passagier reserviert. Ich musste also im Vorderteil des Schiffes bleiben. Nach einiger Zeit kam aus jener Kajüte ein Mann heraus. Er trug eine schwarze Perücke, Gesicht und Anzug waren voll von spanischem Schnupftabak. Er betrachtete mich aufmerksam und fragte mich: „Mein Herr, wer sind sie?“ Der ungenierte Ton seiner Frage gefiel mir nicht, besonders, da der Fragesteller seinem Äußeren nach kein hochstehender Mann war. Ich verweigerte ihm daher jede Auskunft. Er erwiderte im ersten Augenblick nicht, sagte aber dann in höflicherem Tone: „Mein Herr, kommen Sie in meine Kajüte. Sie werden dort weniger unter dem Rauch leiden.“
Die Höflichkeit, mit welcher er diese Worte aussprach, stimmte mich milder. Außerdem hatte sein ganzes Äußere großen Eindruck auf mich gemacht. Ich trat also in die Kajüte. Wir fingen eine Unterhaltung an. Der Reisende sprach über die Regierung der Niederlande. Er beurteilte sie scharf, offenbar, um meine Meinung zu hören. „Welche Regierungsform halten Sie für die beste?“ fragte er. Ich antwortete: „Die Monarchie, wenn der König gerecht und aufgeklärt ist.“ „Ganz richtig, aber wo gibt es solche Könige?“ Und nun fing er an, so gegen die europäischen Fürsten zu deklamieren, dass kein Mensch auf die Idee gekommen wäre, dass er selbst zu ihnen gehörte. Zuletzt sagte er, er bemitleide sie, besonders deswegen, weil sie den Genuss der Freundschaft nicht kennen. Ich entgegnete, dass ich nicht die Ehre habe, Könige zu kennen, aber nach all dem, was ich gelernt habe, glaube ich, dass er recht habe. „Gewiss habe ich recht. Ich sage Ihnen, ich kenne die Herren, von denen ich spreche.“
„Sind Sie in Deutschland gewesen,“ fragte sodann der Fremde. „Nein, ich möchte gern eine Reise nach Deutschland machen. Besonders gern würde ich Preußen und den König von Preußen sehen, von dem so viel gesprochen wird.“ Darauf sprach ich von den Taten des Königs. Aber der Fremde ließ mich nicht ausreden, sondern sagte: „Ach was! Lassen wir die Könige, wo sie sind. Was gehen uns die an? Wir wollen lieber von etwas Angenehmerem sprechen und uns dadurch die Langeweile der Reise vertreiben. Wie können Sie es in diesem wässrigen Land aushalten? Wollen Sie noch lange in Holland bleiben?“ So ging es weiter fort. Ich berichtete ihm über meine Studien und meine Lehrer. Schließlich sagte der Fremde: „Was ich am wenigsten studiert habe, ist die Politik, sie besteht aus Lug und Trug und passt nicht für meinen Charakter…“
Am nächsten Morgen erfuhr ich, dass der Fremde, der sich für den Kapellmeister des Königs von Polen ausgab, der König von Preußen war. Er hatte in dem zu Preußen gehörenden Herzogtum Kleve Truppen inspiziert und die Nähe zu Holland inkognito zu einem Ausflug in den Nachbarstaat genutzt. Nach sechs Wochen erhielt ich einen Brief von ihm mit dem Anerbieten, als Vorleser in seine Dienste zu treten. Krankheit verzögerte die Sache, und ich trat erst im Jahre 1758 die Reise nach Breslau an. Der König hatte dort sein Hauptquartier in dem erneuten Krieg um Schlesien, der bereits ins dritte Jahr ging.