Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)
„So fühlte ich die Zuneigung erkalten“
Was ich über den Preußen Friedrich denke? Kaum hatte ich am 28. August 1756 mein siebentes Jahr zurückgelegt, als gleich darauf jener Krieg ausbrach, welcher auf die nächsten sieben Jahre meines Lebens großen Einfluss haben sollte. Die Welt spaltete sich sogleich in zwei Parteien, und unsere Familie war ein Bild des großen Ganzen. Mein Großvater war mit einigen Schwiegersöhnen und Töchtern auf österreichischer Seite. Mein Vater neigte mit der kleineren Familienhälfte zu Preußen. Man stritt, man überwarf sich, man schwieg, man brach los und konnte einander nicht begegnen, ohne dass es Händel setzte wie in „Romeo und Julia“. Und so war ich denn auch preußisch, oder um richtiger zu reden, fritzisch gesinnt.
Zu Anfang meiner Studentenzeit hatte Friedrich II. für mich noch immer über allen Männern des Jahrhunderts gestanden. In Leipzig, wo ich mich 1765 bis 1768 aufhielt, war es nicht angezeigt, für den König Partei zu ergreifen. Die Leipziger hatten die Hand des Krieges schwer gefühlt. Es sei keine Kunst, sagten sie, einiges zu leisten, wenn man weder Länder, Geld, noch Blut schone. Friedrich habe sich in keinem seiner Pläne und in nichts, was er sich eigentlich vorgenommen hatte, als groß erwiesen. So fühlte ich nach und nach die unbedingte Verehrung erkalten, die ich diesem merkwürdigen Fürsten von Jugend an gewidmet hatte. Zehn Jahre später, es gab nun wichtigere Dinge als den alternden Preußenkönig, kam ich ihm recht nahe. Ich war inzwischen in den Dienst von Herzog Carl August von Sachsen-Weimar getreten und lebte in Weimar. 1778 war ein heikles Jahr.
Wieder einmal war um eine Erbfolge ein Krieg entbrannt, diesmal um die bayerische. Auch Friedrich wollte mitmischen und bezog an der böhmischen Grenze Stellung. Für meinen heroisch gesinnten Herzog war das der willkommene Augenblick, an der Seite des Preußenkönigs Feldherrenruhm zu erwerben. So kam er auf die Idee, nach Berlin zu reisen, um die Situation zu sondieren. Immerhin war er ein Großneffe des Königs.
Sachsen-Weimar war neutral im Bayerischen Erbfolgekrieg, und für mich gab es nur ein Ziel: diese Neutralität zu bewahren. Dabei konnte ich mich auf den Anhalt-Dessauer Fürsten Leopold III. verlassen. Er war befreundet mit Carl August, teilte jedoch dessen Heißsporn-Gemüt nicht. Wie froh war ich, als sich der Enkel des „Alten Dessauer“ bereitfand, den Herzog auf der Reise nach Berlin zu begleiten, um alle seine Schritte zu verfolgen und fatale Entschlüsse zu verhindern. Am 14. Mai 1778 betraten wir inkognito bei Treuenbrietzen brandenburgisch-preußisches Territorium – der Herzog als Herr von Ahlefeld, der Fürst unter seinem Namen, ferner der Kammerherr von Wedel und ich. Weiter ging es nach Potsdam, wo wir im Plögerschen Gasthof unmittelbar neben dem Schloss logierten. Eine Besichtigung des Schlosses Sanssouci scheiterte am flegelhaften Kastellan. Aber den riesigen Exerzierstall aus der Zeit des Soldatenkönigs neben der Garnisonkirche durften wir inspizieren.
In Berlin war es ein prickelndes Gefühl, an der Quelle des Krieges in dem Augenblick zu sitzen, da sie überzusprudeln drohte. Schließlich war es vollbracht: Wir blieben auch weiterhin neutral. Immerhin konnte ich in den folgenden Jahren den Herzog dem Einfluss Friedrichs immer mehr entziehen. Am 21. Mai waren wir zurück in Potsdam. Nach einem schönen Schlaf fand ich endlich meine Seele wieder gereinigt. Nun endlich wurden wir in das Schloss Sanssouci eingelassen. Auch die Bildergalerie nebenan durften wir besichtigen. Am folgenden Tag ritten wir in aller Frühe hinaus zum kleinen Jagdschloss des Soldatenkönigs am Stern. Dann stand der Besuch des Alten Schlosses mitten in Potsdam auf unserem Programm: Hoftheater, Marmorsaal, Festräume. Zu Mittag dann der Aufzug der Potsdamer Wachtparade. Mit Pauken, Trommeln und Pfeifen zogen die Grenadiere zur Schlosswache. Am Nachmittag blieb noch Zeit für die Garnisonkirche und die Gewehrfabrik. Friedrich der Große starb wenige Tage vor meinem 37. Geburtstag.